WHS-Analyse ergibt: Kassen zahlen zu wenig Geld für häusliche Pflege
Masterstudenten des Fachbereichs Wirtschaftsrecht der Westfälischen Hochschule Recklinghausen ermitteln gemeinsam mit dem Pflegedienst APD aus Gelsenkirchen eine Unterdeckung von bis zu zehn Euro pro Stunde – Kostenträger zeigen Interesse an bundesweit erster Matrix zur Berechnung einer leistungsgerechten Vergütung.
Die deutschen Krankenkassen zahlen seit Jahrzehnten zu wenig Geld für die häusliche Krankenpflege. Aktuell bleiben die Pflegeunternehmen auf einem Minus von etwa zehn Euro pro Stunde sitzen. Zu diesem Ergebnis kamen Masterstudenten des Fachbereichs Wirtschaftsrecht der Westfälischen Hochschule Recklinghausen in Zusammenarbeit mit der APD Ambulante Pflegedienste Gelsenkirchen GmbH in dem Projekt „Leistungsgerechte Vergütung in der häuslichen Krankenpflege“. Für die Pflegeanbieter bedeutet die Unterdeckung jährliche Einnahme-Einbußen in Milliardenhöhe – Geld, das die Branche dringend braucht, um ihr Pflegepersonal besser zu bezahlen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, die Digitalisierung voranzutreiben und das unternehmerische Risiko abzusichern.
Lesen Sie hier die aktuelle Pressemitteilung der APD zum Thema.
Seit 1. Januar 2019 erlaubt das Pflegepersonalstärkungsgesetz, dass Pflegeunternehmen eine leistungsgerechte Vergütung der häuslichen Krankenpflege gemäß Sozialgesetzbuch V (SGBV) zusteht. Die Kassen erlaubten in der Vergangenheit bei den Kostenvergütungen grundsätzlich eine maximale Steigerungsrate gemäß der Grundlohnsummensteigerung. Einen nach ökonomischen Prinzipien errechneten Stundensatz, der zum Beispiel auch Elemente der Eigenkapitalverzinsung und des unternehmerischen Risikos enthält, gab es nicht. „Im neuen Gesetz wurde leider nicht ausgeführt, wie sich die leistungsgerechte Vergütung genau zusammensetzt. Diese Lücke haben die Studenten geschlossen. Ihre Ergebnisse versetzen uns in die Lage, mit den Kassen neu zu verhandeln, um in Zukunft unsere Pflegekräfte besser bezahlen zu können“, so Claudius Hasenau, Geschäftsführer der APD-Gruppe, der die Projektidee an die Westfälische Hochschule herantrug.
Tiefe Einblicke in Kostenstruktur
Wie berechnet sich eine leistungsgerechte Vergütung in der häuslichen Krankenpflege? Um diese Frage zu beantworten, die allen ambulanten Pflegediensten momentan auf den Nägeln brennt, erhielten die Studierenden tiefe Einblicke in die Kostenstruktur der APD Ambulante Pflegedienste Gelsenkirchen GmbH, mit rund 500 Mitarbeitenden einer der größten privaten ambulanten Pflegeanbieter in Deutschland. Während des Wintersemesters 2019/2020 begleiteten die vier Masterstudierenden die beruflich Pflegenden auf ihren Morgen- und Abendtouren, stoppten die Zeiten für Behandlungspflege und sammelten viele Informationen. Dazu stellte ihnen die APD-Gruppe nicht nur Unternehmensdaten und fachliche Ansprechpartner zur Verfügung, sondern auch ein eigenes Büro mit Hard- und Software sowie die Möglichkeit von Hospitanzen und Interviews. APD-Chef Claudius Hasenau stattete die Gäste mit einem dicken Paket Fachliteratur aus. Begleitet wurden die Studierenden außerdem durch den Dortmunder Sozialrechtler Dieter Otto, der die APD seit vielen Jahren vor Gericht vertritt.
Matrix stärkt Verhandlungsposition
Um die Kosten für eine wirtschaftliche Leistungserbringung wissenschaftlich korrekt zu berechnen, reichte die Ermittlung der aktuellen Herstellungskosten der Dienstleistung, auch Gestehungskosten genannt, aber nicht aus. Diese mussten ergänzt werden um eine angemessene Vergütung des Unternehmerrisikos, eine angemessene Verzinsung des Eigenkapitals und – je nach Rechtsform – die Vergütung des zusätzlichen persönlichen Arbeitseinsatzes der Geschäftsführung. Unter Berücksichtigung dieser Komponenten erstellten die angehenden Wirtschaftsrechtler eine Matrix, die Pflegeunternehmen in die Lage versetzen soll, in Verhandlungen mit den Kostenträgern in Zukunft ihre tatsächlichen Kosten sachgerecht darlegen und verhandeln zu können. In Testläufen mit unterschiedlichen Unternehmensdaten zeigte sich: Seit Jahrzehnten erhalten Unternehmen für Leistungen der häuslichen Pflege grundsätzlich zu wenig Geld, – pro Stunde fehlen etwa 10 Euro.
„Win-Win“ für alle Projektbeteiligten
Ein „Win-win“ für beide Seiten sei das Projekt gewesen, urteilten Prof. Dr. Thomas Heide und Prof. Dr. Bernhard Bergmans vom Fachbereich Wirtschaftsrecht der Westfälischen Hochschule, die die Ergebnis-se der Arbeit Mitte Februar mit ihren Studierenden der APD präsentierten. „Wie wirtschaftlich-juristisches Know-how unserer Hochschule auf die Strukturen eines klassisch ambulanten Pflegedienstes traf, die sonst eher nicht im Fokus unserer wissenschaftlichen Fachrichtungen liegen, war hoch interessant. Dabei zeigte sich die APD als Unternehmen ungewöhnlich offen und erlaubte uns Einblicke, wie Pflege wirklich läuft. Genau das brauchen wir, um zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen.“
Keine Hurra-Rufe und keine Geschenke
Dass diese nicht in der Schublade verschwinden werden, steht jetzt schon fest. Eine große Krankenkasse, so Hasenau, habe bereits Interesse signalisiert. Claudius Hasenau: „Wir werden die Strukturen, die hier erarbeitet wurden, als Grundlage nehmen, um mit dieser Krankenkasse einen Einstieg in die Verhandlungen für 2021 zu gehen.“ Darüber hinaus wird der APD-Chef die Ergebnisse konsequent Branchenpartnern transparent machen, um politischen Druck zu erzeugen, zum Beispiel über die Ruhrgebietskonferenz Pflege und den Bundesverband wig Wohnen in Gemeinschaft. Claudius Hasenau rüstet sich für die Diskussion: „Hurra-Rufe der Kostenträger erwarte ich nicht. Man wird uns nichts schenken. Aber dank der Pionierarbeit der WHS-Studenten haben wir gute Argumente, die wir notfalls vor dem Sozialgericht vorbringen und bewerten lassen können.“